/ 17 / Honig im Schnee
- Malte
- 17. Dez. 2023
- 3 Min. Lesezeit
Alternativer Märchenkalender (Anmerkung des Verfassers: Bei dieser Geschichte kann selbst nicht mal ich argumentieren, dass es ein Märchen ist. Es ist ein Krimi und ein bisschen gruselig.)
Die Spur lief von dem offenen Fenster den aufgesplitterten Lack der Holzfassade hinunter. Zähflüssig, in der Januarkälte erstarrt, hing das Ende tropfenförmig zwanzig Zentimeter über dem von Neuschnee bedeckten Boden.
Die Hütte sah aus, als hätte sie seit mehreren Jahren niemand mehr betreten. Von den den Naturgewalten überlassenen Wänden über die Fenster, auf denen eine spielkartendicke graue Staubschicht hing, bis hin zu dem fehlenden Holz vor dem Haus und im Kamin. Die Fußspuren des letzten Besuchers schienen über mehrere Jahreszeiten verschneit, verweht und weggespült.
Doch etwas störte dieses Bild. Etwas klebte an diesem Bild des braungrauen Verfalls wie ein pinkfarbener Aquarellfleck auf einer Leinwand. Es sprang ins Auge, fing den Blick. Der Anblick erinnerte sie an die Bergquelle nur einige hundert Meter den Berg hinauf, welche auf der Nordseite des Berges, ihr abgewandt, in den nächsten Talkessel floss. Früher hatte sie dort oft die Sommer verbracht. Erst nahmen sie ihre Eltern auf Touren mit und sie erinnerte sich, wie sie an den seichten Stellen des Flusses planschte. Später erlebte sie ihnen ersten Kuss in einer der Hütten, die mit offenen Türen für alle in den Wanderregionen Norwegens bereit standen. Eine Hütte wie eben diese, zu der sie an diesem Morgen gerufen worden war. Nur belebter.
Sie leuchtete mit der Taschenlampe durch die halboffene Tür in die Stube hinein. Ein großer Raum. Darin befanden sich eine kleine Kochecke neben der eiserne Pfannen und Töpfe an Haken hingen. Unter den Küchenutensilien befand sich der kleine Ofen, den sie bei der Ankunft durch den Türspalt schon wahrgenommen hatte. Auf der anderen Seite des Raumes standen drei Betten aus simplen Holzgestellen. Die Matratzen wirkten von der feuchten Luft klamm und ungemütlich. Mit dem Blick nach rechts schweifend rundeten ein Holzschrank, nicht mehr als ein paar Regalbretter übereinander, und eine Kommode neben der Eingangstür die Inneneinrichtung ab.
Aus dem zweiten, offenen, Fenster hing der Körper. Von außen ließen der heraushängende Arm und der auf dem Sims liegende Kopf nicht andeuten, wie verzerrt, mutiliert, die restlichen Gliedmaßen auf der anderen Seite des Fensterrahmens waren. Der gesamte Körper war ausgewrungen wie ein nasses Handtuch. Der rechte Arm zog die Schulter wie eine Last nach hinten, krümmte sich über den Rücken. Vor der Hüfte baumelte die Hand, umgedreht, die Finger gespreizt zu einer Kralle.
Den Korpus hielten die zum Tau verflochtenen Beine, welche wie in einem Hafen die von den Wogen der Natur hin und her gerissenen mit dem starren und festen Grund vereinte und bei sich hielt.
Dicke, von Rost und getrocknetem Blut rot gefärbte Nägel durchtrieben beide Füße und nahmen nach erstem Eindruck den direkten Weg durch die jeweiligen Mittelfußknochen.
Diese Körperhälfte erzählte eine ganz andere Geschichte. Brutale Gewalt. Die Mündung lange geplanter Mordgelüste. Draußen erklang ein leises Zischen, dann knistern. Sie fuhr blitzschnell herum und positionierte sich hinter der Tür. Bis auf ihren flachen Atem war es totenstill und die Hütte und der Schnee schwiegen mit ihr. Langsam fand sie wieder ihre Fassung und schüttelte den Schreck ab. Bevor sie zurück in die Zentrale fuhr um den ersten Bericht des neuen Falls abzugeben, sah sie wie der Honigtropfen gefallen war. Wie ein Einschussloch durch die Schneedecke ging er glatt hindurch. Der offene Mund der Leiche und die aufgerissenen Augen starrten weiter in die Leere, während die Masse an Honig begann aufzutauen und von sich langsam von dem vollkommen umschlossenen Kopf löste.
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