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/ 5 / Der große vergessliche Wolf

  • Autorenbild: Malte
    Malte
  • 5. Dez. 2023
  • 5 Min. Lesezeit

Alternativer Märchenkalender


Es war einmal ein großer böser Wolf. Seine vorherigen großen und bösen Pläne waren allerdings allesamt kläglich gescheitert. Stets wurde er überlistet und stets musste er ausgelacht, beschämt und mit hängendem Kopf nach Hause hinken. Aber das sollte jetzt vorbei sein. Diesmal hatte der große böse Wolf seine Pläne wieder und wieder überdacht und er würde ganz sicher seine Rache bekommen.


Zuerst würde sich der große böse Wolf die drei Schweinchen vorknöpfen, die ihn mit ihrem Haus aus Ziegelsteinen und dem Kaminofen damals echt vorgeführt hatten. Diesmal hatte er einen schweren Hammer dabei, um die Hausmauern in wenigen Schlägen zum Einsturz zu bringen. So schlich er sich eines Morgens zu der kleinen Siedlung mit den Häusern der drei kleinen Schweinchen und hob den Hammer bereits zum zuschlagen, da hörte er ein Schnaufen und Keuchen von der anderen Seite des Hauses. Der Wolf war nicht nur groß und böse, sondern auch sehr neugierig. Und so lugte er hinter der Ecke hervor und sah die drei kleinen Schweinchen ein riesiges Sofa tragen. Sie alle schwitzten und krümmten sich unter der Last. Es war echt nicht schön anzusehen und so sprang der große böse Wolf aus seinem Versteck hervor. AAAAAAAAAAH! schrien die drei kleinen Schweinchen mit ihren grellen Stimmchen. Braucht ihr Hilfe beim Tragen? fragte der Wolf, sichtlich verwirrt von dem Geschrei. Was? Du willst uns nicht fressen? quietschten die Schweinchen zitternd. Warum sollte ich? Ich hatte euch schuften gesehen und dachte ihr braucht vielleicht meine Hilfe. Ich bin immerhin der große und ähm... starke?...Wolf.

So nahm der Wolf sich das Sofa, hob es ganz alleine hoch und trug es in das Haus. Und da er schon da war, half er auch bei dem Rest der Inneneinrichtung. Mit seinem Hammer schlug er Nägel in Holzbalken, an denen die Schweinchen Familienfotos aufhingen. Nachdem die Arbeit getan war, bedankten sich die Schweinchen artig und der Wolf machte sich auf den Weg nach Hause. Er kratzte sich am Kopf. Irgendetwas hatte er heute vergessen. Am nächsten Tag wachte der große böse Wolf auf und schmierte sich sein Toast zum Frühstück. Heute würde er Rotkäppchen endlich schnappen. Nichts mehr mit dem Großmutter-Schauspiel. Dieses Mal würde er sie direkt packen und ausrauben, bevor sie mit Brot und Wein bei ihrer Oma ankam. Er wanderte in den Wald und wartete geduldig in einem Busch, an dem Rotkäppchen jeden Sonntag vorbeikam. Da war sie auch schon und mit einem gewaltigen Sprung plusterte der große böse Wolf sich vor Rotkäppchen auf. Aber sie weinte. Sie weinte schon, bevor er aus dem Busch gesprungen kam. Was willst du denn noch? Der Tag kann ja kaum schlimmer werden. schluchzte sie.

Warum weinst du denn so schlimm? Was ist los? fragte der große böse Wolf in seiner wärmsten Stimme.

Ach, ich wollte einmal das Brot für Großmutter selber backen und schau es dir doch an. Es ist hart wie ein Stein und platt wie eine gemachte Bettdecke. Großmutter wird so enttäuscht von mir sein. erklärte Rotkäppchen und wischte sich eine Träne von der Wange.

Na na, sei nicht so harsch mit dir. Du musst wahrscheinlich das Brot vor dem Backen nur eine Stunde in einem warmen Zimmer ruhen lassen, damit es aufgeht. Und wenn du es in einem Tontopf aufbewahrst, dann bleibt es länger frisch und fluffig. Du wirst bestimmt eine super Bäckerin, indem du es immer wieder versuchst. munterte der große böse Wolf sie auf.

Warum weißt du das alles? Bist du nicht mit... großen und bösen Sachen beschäftigt?

Der große böse Wolf wirkte überrascht. Warum denn böse Sachen? Ich arbeitete lange in einer Bio-Bäckerei, bis ich in den Märchenwald gezogen bin. Nicht umsonst bin ich der große und ähm... backende?... Wolf. Und denk mal drüber nach deiner Oma statt Wein eine Cola mitzubringen. Das könnte ihr schmecken.

Rotkäppchen bedankte sich für den zugesprochenen Mut und die Backtipps und hüpfte fröhlicher als zuvor in Richtung von Großmutters Haus. Der große böse Wolf winkte ihr nach, bis sie zwischen den Bäumen verschwunden war und machte sich dann auf den Weg nach Hause. Er kratzte sich am Kopf. Irgendetwas hatte er heute vergessen.


Am nächsten Morgen wusste der große böse Wolf genau was zu tun war. Es war Montag und die Eltern der sieben Geißlein waren auf Arbeit. So waren die kleinen Kinder allein daheim und er konnte sie ohne weiteres entführen. Dismal probierte er es gar nicht mit Kreide und simplen Tricks. Er würde sehr direkt vorgehen und durch ein Fenster oder den Schornstein einbrechen. Als er die Eltern den sieben Geißlein einen Abschiedskuss geben sah, ging der große böse Wolf auf Zehenspitzen zu einem der großen Fenster, welches halboffen stand. Doch bevor er hineinklettern konnte, stoppte er, als die Stimmen der Geißlein von innen kamen. Uns ist so langweilig. Wie sollen wir denn jetzt erfahren, wie die Geschichten in unseren Büchern weitergehen? Müssen wir wirklich neun ganze Stunden warten, bis unsere Eltern wieder nach Hause kommen?

Da lief der große böse Wolf zur Eingangstür und klopfte. Macht auf, ihr lieben Kinder, es ist der Wolf und ich habe gehört, dass ihr jemandem zum Vorlesen braucht. sprach der große böse Wolf mit lauter Stimme.

Wir machen nicht auf! Du bist unsere Mutter nicht... warte. Du willst uns gar nicht reinlegen? Was willst du hier? murmelten die Geißlein wild durcheinander.

Natürlich bin ich nicht eure Mutter. Behaupte ich auch gar nicht zu sein. Ich bin der große und... lesende?... Wolf. erklärte der Wolf sanft.

Und warum sollten wir dir vertrauen? Genau, warum? trotzten die Geißlein einstimmig.

Bevor ich in den Märchenwald zog, war ich Lesepate und habe kleinen Kindern wie euch jede Woche ganz viele Bücher vorgelesen.

Zögerlich öffnete sich die Tür und sieben kleine Geißleinköpfe schoben sich hindurch, um den großen bösen Wolf zu sehen, der sehr freundlich lächelte. Und schon bald saßen sie alle im Haus um den großen bösen Wolf herum und lauschten einer Geschichte nach der anderen. Am frühen Nachmittag verabschiedete der große böse Wolf sich und konnte den Umarmungen der Geißlein kaum entkommen. Er kratzte sich am Kopf. Irgendetwas hatte er heute vergessen.


Am Dienstag hatte der große böse Wolf Geburtstag und blieb ganz lange im Bett und ließ es sich gut gehen, bis das Geräusch von der Postkutsche und das Rumpeln und Rascheln von Paketen und Briefen ihn aus seiner Bettdecke kitzelte.

Vor seiner Haustür stand ein Stapel Post. Zwei Pakete und ein Brief. Der große böse Wolf stellte sie auf den Küchentisch und machte sie auf. Der Briefumschlag beinhaltete ein Foto: Lieber großer starker Wolf. Vielen Dank für deine Hilfe bei unserem Umzug, das war wirklich unglaublich nett und großzügig von dir. Hier ist noch das tolle Foto, das du von uns Vieren an diesem schönen Tag gemacht hast. Die drei Schweinchen. In dem ersten Paket war ein riesiger, duftender Brotlaib. Lieber großer backender Wolf. Vielen Dank für deine Tipps beim Backen. Ich habe am Abend nach unserer Begegnung direkt wieder angefangen Teig zu kneten und schau dir an, was daraus geworden ist! Danke für deine Hilfe. P.S. Oma findet Cola echt lecker.

Und in dem zweiten Päckchen lag ein Buch. Lieber großer lesender Wolf. Vielen Dank für deine Geschichten. Wir haben gemerkt, dass du die Geschichten aus den Büchern gar nicht richtig gelesen hast, aber die Geschichten, die du dir einfach ausgedacht hast, fanden wir viel viel spannender als jedes unserer Bücher. Hier ist ein leeres Buch in das du deine Geschichten vielleicht schreiben kannst. Oder vielleicht hast du ja einen Sohn, der sie für dich aufschreiben kann, wenn dir das Schreiben mit deinen großen Krallen nicht so leicht fällt.

Der große böse Wolf war gerührt von all diesen lieben Worten und den Geschenken. Er verstand aber nicht ganz, warum er von den Bewohnern des Märchenwaldes so beschenkt und geliebt wurde, schließlich war er doch der große und ähm... Wolf.

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