top of page

Der Mann der keine Entscheidungen traf

  • Autorenbild: Malte
    Malte
  • 9. März 2020
  • 5 Min. Lesezeit

Der Wecker klingelt. Es ist 7:02. In neunzehn Minuten steht der Bus vor der Tür.

Ramon springt auf und hechtet ins Bad. Heute hat der Wecker spät geklingelt. Ungewohnt. Unerwartet. So wie alles in seinem Leben. Und aufregend. Schnell duscht Ramon und sprintet mit noch halb shampoonierten Haaren zu seiner Kommode und greift die erstbesten Kleidungsstücke, die zwischen seinen Fingern hängenbleiben. Während er sich noch den dunkelgrünen, kratzigen Wollpullover überstülpt, humpelt er in die Küche, kickt den Kühlschrank auf, greift blind hinein und findet eine Packung Gouda. Eine Scheibe Käse landet auf einem Stück Brot aus dem Brotkorb. Kürbiskern. Er wusste nicht einmal, dass er das gekauft hatte. Keine Zeit zum denken. Mit dem Brot im Mund springt Ramon zum Schuhregal. Was für ein Tag war heute? Der 06.03.2020. Die Quersumme ist 13. Die Quersumme davon ist 4. Er öffnet das linke Fach in der zweiten Reihe. Dahinter liegen fein gepflegte dunkelbraune Lederschuhe. Edel. Schick. 2 Minuten. Laute Schritte hallen durch das Treppenhaus und kurz darauf knallt die Haustür zu. Die Ampel ist gerade rot geworden, aber Ramon tut mal so, als hätte er das gerade nicht bemerkt und eilt zu der Bushaltestelle auf der anderen Straßenseite, an der bereits sein Bus zur Arbeit einfährt. Er steigt ein. Der Bus ist relativ leer. Im Kopf teilen sich die Sitzmöglichkeiten in vier Blöcke ein. Vorne links und rechts liegen Bereich eins und zwei. Hinter der mittleren Tür sind dann links Bereich drei und rechts Nummer vier. Jetzt schaut Ramon sich um. Er sucht eine dieser Zahlen. Irgendeine. Da! Auf der Zeitung der alten Dame, die direkt hinter dem Busfahrer sitzt prangt die Schlagzeile:”Drei Verletzte bei schwerem Unwetter auf Usedom.”. Also läuft Roman geradewegs nach hinten und betrachtet die freien Sitzplätze seiner mental erkorenen Tribüne. Zwölf zählt er von vorne bis an die Rückwand des Busses ab. Er zieht sein Handy aus der Hosentasche, entsperrt es und wischt zweimal nach rechts. Der DAX steht bei 23,11 Punkten. Elf. Das ist eine Antwort. Der Platz in der hintersten Reihe am Gang. Nach dem gehetzten Morgen ist ihm ganz und gar nicht mehr nach dösen. Der Wecker hat so spät geklingelt und Roman spürt die zusätzlichen Minuten Schlaf als Energie durch seinen Körper strömen. Das ist nicht immer so. Manchmal klingelt der Wecker auch schon um kurz vor sechs. An solchen Tagen steht dann immer ein langes Frühstück an. Manchmal geht Roman in ein Café, manchmal isst er Cornflakes und schaut dabei auf der Couch einen Film oder mixt sich einen Smoothie aus frischem Obst oder Gemüse oder beidem. Manchmal klingelt er auch um halb sieben und bietet Raum für genug Schlaf und Frühstück zugleich. Aber das hat der Wecker lange nicht mehr getan. Vielleicht macht er es morgen. Oder nächste Woche. Oder er lässt sich noch etwas Zeit damit. Roman wird es erst wissen, wenn es eines Morgens passiert. Und das findet er aufregend. Kurz vor acht steht der Bus in der Innenstadt zwischen zahlreichen Hochhäusern. Aussteigen, kurz auf den Verkehr achten und dann in das große Gebäude gegenüber. Treppe oder Fahrstuhl? Die Münze zeigt Kopf. Der Fahrstuhl also. Siebter Stock. Eine kurze Begrüßungsrunde im Büro und ab an seinen Tisch. PC hochfahren. Die neuen Aufgaben begutachten, die seine Chefin ihm wie jeden Morgen auf den Tisch gelegt hat. Roman ist zufrieden mit seinem Job. Er macht seine Arbeit gut und gründlich, so wird es ihm immer wieder gesagt. Zuverlässig und erledigt stets das, was ihm aufgetragen wird. Er hatte mal einen Job, in dem das nicht so war. Deswegen schätzt er dieses Lob umso mehr. Damals traf er Entscheidungen. Manche wichtiger und manche weniger wichtig. Aber er musste Entscheidungen treffen. Und das ging nicht. Es geht immer noch nicht. Darum macht Roman das auch nicht mehr. Er trifft keine Entscheidungen mehr. Alle Beschlüsse, Auswahlen und Optionen sind entweder routinemäßig in den Alltag eingebaut oder er lässt den Zufall darüber entscheiden. Oder ein mathematisches System. Oder beides. Oder keines. Je nachdem was der Würfel zeigt. Oder die Münze. Oder der Zahlengenerator.

Sein gesamtes Leben ist gleichzeitig vorhersehbar und geregelt und doch überraschend, spontan und impulsiv. Nur dass der Impuls nicht von ihm ausgeht, sondern der Zufall entscheidet und Roman sich stets auf das Ergebnis freut und darüber nachdenkt, was all die verschiedenen Optionen sind, die die Welt für ihn zu bieten hat und auf die er sich voller Intention einlässt. Zeit für Mittagessen. Roman steht mit ein paar Kollegen in der Schlange des nahegelegen Burgerladens und starrt auf die großen Tafeln über der Theke und grübelt. Vier Tafeln. Vier. “Wann hast du nochmal Geburtstag, Marian?”, wendet er sich direkt an seine Kollegin. “Äh. 27. September, wieso?”, antwortet diese. Doch Roman ist schon wieder in Gedanken versunken: “Herbst also. Drei. Gut.”, und richtet seine Aufmerksamkeit auf die dritte Tafel. Hähnchenburger und Salate. Jeweils fünf. Er schaut sich um. “Hey, Thomas. Hast du dir nicht letztens einen Finger eingeklemmt. Welcher war das nochmal?”, wendet er sich wieder an einen Kollegen. “Der Ringfinger. Hier, er ist immer noch ein wenig blau und angeschwollen.”, antwortet Thomas und hält Roman seine Hand präsentierend hin. Die linke Hand. Zweiter Finger. Okay. Dann ist es der Hähnchenburger mit Guacamole.

Eine füllende Mahlzeit und keine Entscheidungen später und ein Nachmittag auf Arbeit mit vielen Aufträgen und ebenso wenigen Entscheidungen später macht Roman sich auf den Heimweg. Zu Fuß. So hat es sich ergeben, nachdem er die Buchstaben in dem Kalenderspruch heute gezählt hat und diese durch seine Tabelle an Fortbewegungsmitteln rechnete.

So zieht es ihn durch die immer noch belebten Straßen der Großstadt. Im dämmernden Licht an den zahlreichen Menschen vorbei, die nach ihm entschieden zu viele Entscheidungen trafen, um wirklich glücklich zu sein. Er blickt auf den regen Verkehr, nach oben in die künstlich beleuchteten Großraumbüros, die seinem Arbeitsplatz glichen. Auf die Menschen in Cafés und Bars, die am Telefon diskutieren und…

Plötzlich kracht etwas in ihn hinein. “AAAH. Entschuldigung. Es tut mir so leid. Entschuldigen sie bitte!”, kreischt eine Stimme. Roman schluckt den Schock herunter und blickt in das Gesicht einer jungen Frau mit schulterlangen braunen Haaren in blauem Sakko. Sie kam wohl eben um die Straßenecke gehastet und nahm Roman so wenig wahr wie er sie. “Tut mir leid. Kann ich ihnen beim saubermachen ihres Anzugs helfen? Das ist mir so peinlich.”. Romans Blick wandert nach unten und erblickt einen nassen Fleck. Kaffee. Halb so wild, denkt er sich. “Nein, nein. Geht schon, glaube ich. Ich habe ja auch nicht aufgepasst.”, gibt er der aus allen Himmeln gefallenen Frau endlich als Antwort. Aber da ist etwas. Ein Gefühl. In ihm drin. Es ist so ungewohnt, fast parasitär. Aber gerade fühlt es sich gut an. Euphorisch fast. Ist das etwa eine bewusste Entscheidung? Roman holt tief Luft und lässt es aus sich heraus sprudeln, was auch immer da ist: “Ah, tut mir auch leid. Also wegen dem Kaffee.”. Er deutet auf den Becher, der in einer Pfütze auf dem Boden liegt. “Kann ich das wieder gut machen… Also… Wollen wir einen Kaffe trinken gehen?”. Die Frau schaut Roman mit großen Augen an. Und wahrscheinlich kann Roman sich selbst gerade mit dem selben Blick anschauen, wenn ein Spiegel da wäre. Die Luft knistert elektrisch. Das war eine Entscheidung. Und was für eine. ENDE Nein. Noch nicht ganz. “Oh, nein. Es tut mir leid. Also das ist wirklich nett von ihnen, aber ich kann nicht annehmen.”, antwortet die Frau höflich, reicht Roman ein Taschentuch für den Fleck auf seinem Anzug und verschwindet in der Menge an nach Hause gehenden Menschen. Und das gefiel Roman. Ein klares Nein. Eine klare Entscheidung. Irgendwie hatte das ja doch was.

Aktuelle Beiträge

Alle ansehen
The tale of the blank pages

Every story needs a place to begin. A story about an empty book can be hard to explain. If the pages were empty, there would be no story...

 
 
 
Ein politischer Text

Mein Shampoo verspricht mir, dass mein Haar nach der Wäsche „bis zu 100% Schuppenfrei“ sei. Bis zu 100%? Also wäre da alles drin? 23%,...

 
 
 
My hair is an addict

In der Dusche meines AirBnbs in Kristiansand, Südnorwegen, begegnete ich einer Shampooflasche auf der unter dem Logo des Herstellers...

 
 
 

Comments


bottom of page