Frieden
- Malte
- 5. Jan. 2020
- 4 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 22. Apr. 2020
Ich sitze alleine in einem Boot auf dem Mittelmeer.
Die Sonne scheint, die Vögel tanzen über meinem Kopf und das Wasser streichelt mein Boot über seine seichten Wellen.
Alles scheint so friedlich.
Friedlich.
Friedlich?
Im Duden wird das Wort friedlich auch mit "von Frieden erfüllt" oder "ohne Gewalt oder Krieg" beschrieben.
Natürlich weiß ich das nicht. Ich habe weder einen Duden auf meinem Boot, noch habe ich mir diese Zeile gemerkt.
Aber es ist dennoch interessant darüber nachzudenken und meine Gedanken schweifen zu lassen.
Es ist ja auch nicht so, als könnte ich gerade viel anderes tun.
Was bedeutet also Frieden?
Ist es wirklich jeder Zustand, der gerade ohne Konflikt oder Krieg ist?
Als ich vor ein paar Tagen morgens Brötchen gekauft habe, war das Frieden?
Ich habe die lokale Sprache nicht gesprochen und deutete nur auf die Brötchen und hob ein paar Finger um zu zeigen, wie viele ich von einer Sorte kaufen wollte.
Ist Frieden an der Ampel stehen und hilflos dem Verkehr zuschauen, der sich in dieser fernen Metropole wie ein Monster vor mir aufbaut, bereit mich zu verschlucken bevor die Ampel auf grün springt?
Für mich ist Frieden nicht die Indifferenz des Alltags.
Jede roboterartige Bewegung und Aktion die wir schon tausend mal getätigt haben, um uns wie ein Zahnrad in die Maschine der Gesellschaft einzufügen.
Das übliche aneinander vorbeischauen und die gewollte Blindheit in dem Schulter an Schulter gefüllten öffentlichen Nahverkehr, bei dem wir uns als Menschen doch eigentlich näher sind als unseren besten Freunden.
Kann diese Blindheit Frieden sein, wenn wir durch die Massen hasten, aber anstatt Menschen nur Glas sehen?
Ich möchte nicht, dass das Frieden ist.
Frieden soll etwas schönes sein. Etwas was wir nah an unserem Herzen halten und doch mehr als bereit sind es loszulassen, um es zu teilen.
Nicht nur für den eigenen Frieden leben, sondern den Frieden aller. Egal ob sie diese Idee teilen oder nicht.
Ein positiver Impuls, der weitere Impulse auslöst und eine erleuchtende Welle durch die Straßen schwemmt.
Die Welle spritzt mir Wasser in mein Gesicht.
Ich zucke zusammen und spucke die salzigen Tropfen, die auf meiner Zunge gelandet sind, mit verzogener Fratze aus.
Meine Augen halte ich geschlossen. Suche nach innerem Frieden.
Ich atme tief ein.
Liebe ist eine Form von Frieden.
Pure Hingabe, Leidenschaft, Vertrauen und Selbstlosigkeit.
Die Sicherheit in Armen anderer beschreibt sowohl den Frieden als auch die Liebe.
Als ich in diesem Land ankam, waren meine Freundin und ich verloren in dem für uns unbekannten chaotischen Dschungel aus Lichtern, Farben und Einwohnern, die diese Straßen wahrscheinlich besser kannten als ihre eigenen Namen.
Und so hilflos wie wir dort standen, trugen uns barmherzige Seelen von Ort zu Ort.
Obwohl unsere Lippen kein Wort formen konnten, zeigten wir mit großem Lächeln und fast schon vor Überwältigung und Dankbarkeit signalroten Wangen all unsere Liebe. Wir hatten nichts, um ihnen für die Wegweisungen per Handzeichen und Empfehlungen über das Präsentieren kleiner, scheinbar persönlicher Bilder von ihnen uns ihren Geliebten vor Gebäuden und in der Natur zu danken.
Fast nichts. Wir gaben ihnen unseren Frieden. Wir teilten die Vision, dass wir besser sein können, indem wir unseren Fahrbahn verlassen und Gestrandeten helfen, mit der Sicherheit, dass dieser geteilte Frieden weiter geteilt wird und seinen Weg um die Welt findet.
Nach einigen Tagen in dem vor Leben kochendem Herzen der Stadt fanden wir uns immer besser zurecht. Der wummernde Rhythmus der Straßen zwang uns nicht mehr in die Knie. Inzwischen pulsierten unsere Schritte im Takt der Schreie, mit denen Marktverkäufer ihre Ware anpriesen. Mit dem Gesang der Kinder, die tanzend über Seile sprangen. Parallel zu dem ständigen Ticken der großen Uhr, die am beeindruckenden Plaza Internationale wie ein alles zusammenführendes Kunstwerk strahlte.
Tick.
Tack.
Tick.
...
Ich atme aus.
Ich öffne meine Augen.
Das Boot schwankt nach wie vor auf der tiefblauen See.
Meine Augen tasten den Horizont ab.
Ich kann nichts sehen.
Ein erdrückendes Gefühl hält mich davon ab, mich weiter umzuschauen.
...
Tack.
Ohrenbetäubendes Wummern bricht den Boden. Rauch und Feuer schießen in alle Richtungen und schlagen uns tief in den Körper. Rot, alles ist rot. Feuer, Schreie, Blut. Instinktiv greifen meine Hände ihre so fest es geht. Erschütterungen, panische Flucht. Ich kann ihren Atem nicht hören, auch meiner wird flach. Knie aufgeschunden vom Aufprall auf dem Bordstein. Nicht ohnmächtig werden!
Gab es da, wo ich geboren bin, Frieden?
Nur weil ich als Kind keine Panzer auf dem Schulweg gesehen habe und mir die Form einer AK-47 nur von Actionfiguren bekannt war, mit denen meine Eltern mich nie spielen ließen, heißt das nicht, dass wir Frieden hatten, oder?
Vielleicht waren wir nur dazu aufgezogen, besonders gut wegzuschauen.
Wir haben die kleinen Kriege nicht gesehen. Vor allem nicht die, die unsere Freunde und Bekannten mit sich selbst kämpften um das Trugbild des Friedens in unserer Heimat zu wahren.
Ich drücke ihre Hand ein letztes Mal.
Etwas packt mich an der Schulter. Es ist nicht so brutal wie die erste Explosion oder so schmetternd wie die Steinbrocken, die darauf folgend wie Raketen durch die Rauchschwaden zischten und ihre Opfer fanden.
Es ist sanfter, dennoch bestimmt. Es zieht mich.
Meine Hand ist immer noch fest in ihrer.
Luft streift wie Samt über meine Nase. Salzig, frisch.
Unter mir spüre ich sicheren Boden. Er schwankt etwas, doch mein Gefühl sagt mir, dass ich ihm trauen kann. Mir bleibt ohnehin nichts anderes übrig. Meine Gedanken bewegen sich immer langsamer fort.
Ich spüre einen Ruck und bin weg.
Eine starke Hand zieht mich nach oben. Gegen meine Füße pressen sich feste Stahlplatten, Menschen um mich herum reden, rufen.
Ich kann sie verstehen, aber kann mich nicht genug konzentrieren, um ihnen zuzuhören.
Meine Augen schlagen auf und blicken in erschöpfte und doch erleichterte Minen. Trauer erkenne ich auch.
Und die Hoffnung.
Hoffnung auf Frieden.
Ich denke Frieden ist das, was wir daraus machen.
Das ist Frieden.
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