Leere
- Malte
- 30. Apr. 2020
- 6 Min. Lesezeit
23. August 2007
Ich sitze mit meinen Eltern am Frühstückstisch und schaufle mit dem Löffel verträumt Cornflakes in meinen Mund. Die morgendliche Sommersonne schimmert trocken auf unseren gepflegten Garten und durch die glitzernden Fensterscheiben der Küche. Ein Samstagmorgen, der sich nicht sonderlich von denen gestern, vorgestern und wahrscheinlich auch denen von morgen und übermorgen unterscheidet. Mom trinkt ihren Kaffee - ein halber Teelöffel Zucker und einen kleinen Schluck Milch - und lauscht aufmerksam der Nachrichtensendung im Radio. Dad blättert wie immer durch die Tageszeitung auf der Suche nach interessanten Artikeln. Wie ich an seinem Blick erkenne, hat er gerade einen ausfindig gemacht und möchte seinen Fund mit mir teilen. Meine Augen rollen langsam zu ihm hoch und blicken ihn gelangweilt an. Mein Kinn rastet müde auf meiner stützenden Hand und ich strahle plakativ komplettes Desinteresse aus. Aber Dad ist das entweder nicht bewusst oder einfach egal. Jedenfalls lässt er es sich nicht nehmen ohne Worte meine Aufmerksamkeit zu fordern und mir aus der Zeitung vorzulesen:
Yosemite: 2 Verletzte, 1 Toter bei Meteoriteneinschlag In der letzten Nacht überraschte ein Naturphänomen eine kleine Gruppe von Besuchern des Yosemite Nationalparks. Nahe der Yosemite Falls saß die Familie am Abend gegen 19:30 Uhr und picknickte, als ein helles Licht am Himmel erschien. Es zischte, blitzte und mit einem ohrenbetäubenden Knall schoss ein Meteorit vom Himmel hinab und schlug nahe der Raststelle auf. Bei dem Einschlag starb einer der Besucher. Die anderen beiden sind in ein nahegelegenes Krankenhaus gebracht worden und befinden sich in ärztlicher Behandlung. Meteoriteneinschläge von dieser Größe sind überaus selten und wurden seit vielen Jahren nicht...
"Dad.", stöhne ich. "Und was ist daran so spannend?" "Na schau mal. Da kannst du dich ja nochmal glücklich schätzen, dass du bei deinem Unfall so gut davongekommen bist.", sagt Dad mit belehrender Stimme. "Nicht schon wieder das Thema.", jammer ich und versuche das Gespräch in eine andere Richtung zu lenken. "Könntest du mir die Cornflakespackung geben? Ich habe noch Hunger."
"Na gut. Aber pack dann gleich deine Sachen fürs Training. Ich fahre in 10 Minuten los. Ob mit oder ohne dich.", lacht er, wie ein Vater das halt macht, wenn er sich besonders witzig findet. Zehn Minuten später sitze ich auf der Rückbank unseres Toyota Familienwagens und schweige meinen Vater an. Ich hasse es, wenn er den Unfall anspricht. Vor einem Monat wurde ich von einem Auto angefahren. Ich lag Tage im Krankenhaus unter starker Aufsicht und ständigen Untersuchungen. So wurde mir es jedenfalls immer wieder von meinen Eltern erzählt. Irgendwann kam ich mit einem großen Aufatmen wieder zu Sinnen und fühlte mich wach. Wie als ob ich aus einer Wanne mit Eiswasser aufgetaucht wäre. Alles war kalt, aber ich war da. Bei dem Unfall habe ich einen großen Teil meiner Erinnerungen verloren. Jeder Moment vor diesem Erwachen ist eine Sphäre von dunkler Materie in meinem Kopf. Wenn immer ich versuche mich an etwas vor dem Unfall zu erinnern, dann stoße ich auf eine Wüste aus Leere. Aber nicht einfach nichts. Es ist eine knisternde Leere. Ein dunkler Sog. Absorbierend. Komprimierend. Eine Suche nach Erinnerungen bereitet mir stechende Kopfschmerzen, weswegen ich versuche nicht daran zu denken und auch meinen Eltern aus dem Weg gehe, sobald sie wieder damit anfangen. Und das tun sie oft. Zu oft. Da ich zum Glück, bis auf ein paar kleine Narben, keine Wunden davongetragen habe will mein Dad, dass ich über die Sommerferien weiter beim Basketballtraining mitmache. "Damit du deinen Kopf mal woanders hast.", sagt er immer. Und irgendwie hat er ja Recht. Ich starre meinem Team in ihre Gesichter. Und es kribbelt ein wenig in meinem Kopf. So viele Gesichter und Geschichten, doch alle Seiten sind leer. Auch wenn ich versuche sie zu lesen starre ich nur auf blankes Papier, das von neuem beschrieben wird. Die Anderen haben das inzwischen auch kapiert und stolpern nur noch ab und zu über meine absolute Unwissenheit über vergangene Ereignisse. Ich hörte viele Geschichten von ihnen und mir, doch in meinem Kopf schwebe ich nur als Zuhörer ihrer Erzählung darüber, anstatt dabei zu sein.
30. August 2007
Dad ist heute so ruhig, als er mich vom Training abholt. Sonst fragt er mich immer ganz genau über die Spielzüge aus und gibt keine Ruhe, bis ich ihm von jedem Korb erzähle, den ich geworfen habe. Danach dreht er oft das Radio laut auf und singt schief zu Rockmusik, ohne den Text wirklich zu kennen. Heute schweigt er, wie ich es meist vorziehe. Und einerseits freue ich mich, dass ich ein wenig abschalten kann, aber dennoch wundere ich mich ein wenig über sein Verhalten. Mom und Dad haben nach dem Unfall echt viel für mich getan. In einem Monat beginnt mein erstes Jahr in der Highschool. "Eine perfekte Chance für dich, neue Leute kennenzulernen und einen neuen Start zu wagen.", hat Mom mir Mut gemacht, als ich gezweifelt habe, wie es mit mir weitergehen soll.
Ohne Erinnerungen wer ich war, wo ich war und wen und was ich liebte. Ein kleiner Funken Freude und Hoffnung sprießt in mir, dass ich nach diesem Reset wieder ein Leben finde und neue Erinnerungen auf die gähnende Leere in meinem Kopf schaufle, um eventuell das schwarze Loch zu stopfen. Es klingt komisch das so zu sagen, aber der Unfall hätte an keinem besseren Zeitpunkt kommen können. Die Sommerferien hatten gerade begonnen. Der Schulwechsel stand hinter ihnen und wartete. Eigentlich wollten meine Eltern mit mir in den Urlaub fliegen, aber jetzt nutzten wir die Zeit als Familie eben gemeinsam und machten Tagesausflüge und spielten an regnerischen Abenden Brettspiele, bei denen ich immer gewann, auch wenn ich die Regeln neu lernen musste. Auch wenn die beiden mir manchmal auf den Keks gehen und mich betätscheln, wie Grandma es immer getan hat (Das ist eine der wenigen Erinnerungen, die mir geblieben ist und die einzige, die ich noch von ihr habe.), so liebe ich sie trotzdem und kann verstehen, wie schwer es sicher für sie ist und wie viel Mühe sie sich geben. Ich blicke Dad über den Rückspiegel in seine müden Augen und kann mir nur denken, dass in seinem Kopf sich das Blitzlichtgewitter abspielt, welches in meinem hinter dieser leeren Wand verschwunden ist. Ich seufze voller Dankbarkeit und Erschöpfung.
2. September 2011
Es ist so weit! Der Tag ist gekommen! Ich ziehe aus! Das College wartet auf mich! Der Transporter steht vor der Tür und in der Küche tümmeln sich alle meine Freunde aus der Highschool und dem Basketballteam. Sie lachen und schlagen sich den Bauch mit Pizza voll. Ich sitze mit Annie und Dan auf dem Dachboden und stöbere in dumpfen Licht durch alte Sachen. Wir drei sitzen vor einer großen Holzkiste, die bis zum Rand gefüllt ist mit meinen alten Kuscheltieren, Büchern, nicht mehr passenden Klamotten, Fotos mit Menschen, an die ich mich nicht erinnern kann und Souvenirs von Orten, an denen ich anscheinend mal war. Dan hält mir einen großen lila-pinken Teddy vor mein Gesicht und lacht: "Und damit hast du dich dann Nachts immer ins Wolkentraumland gekuschelt? Haha." Ich grinse und werde leicht rot: "Keine Ahnung. Wahrscheinlich war das wohl mein bester Freund als ich klein war.". "Und du hast ihn überall mit hin genommen. Der sieht ja auch im wahrsten Sinne des Wortes echt mitgenommen aus.", wirft Annie ein und wir lachen laut. Dann klettern die beiden die Leiter des Dachbodens hinunter, um uns noch mehr Pizza zu holen. Ich atme tief durch und spüre tiefste Freude in mir. Die letzten Jahre waren aufregend und intensiv. Ich habe wundervolle Freunde gefunden und mit ihnen Abenteuer erlebt, die ich hier gar nicht auf die Schnelle erzählen kann. Meine Hände tasten den Boden der Holzkiste ab und stoßen auf zahlreiches kleines Spielzeug, einzelne Legosteine, verknickte Briefmarken (die ich mal wie ein Fanatiker gesammelt habe, meinte Mom) und stoppen in einer Ecke an einer harten Kante. Eine Postkarte, alt und verstaubt. Auf der einen Seite sind Berge und Bäume und Berge mit Bäumen drauf. Auf der anderen Seite ist sie datiert. 15.08.07. Das war kurz nach meinem Unfall. Ich kann mich nicht daran erinnern diese Postkarte gelesen zu haben.
Hey Jacob, Wie laufen deine Ferien so? Wenn diese Karte ankommt, bist du wahrscheinlich noch in Florida unterwegs und machst die Staßen unsicher. Ich kenne dich doch. Und ich hoffe, dass du das Finale der Junior League noch gerockt hast. Ach, was hoffe ich - Ich weiß es! Wir sind hier schon ein paar Tage am wandern und bisher hat das Wetter fantastisch mitgespielt. Gestern sind wir auf die Peak geklettert, die du vorne auf der Postkarte siehst. Jetzt tut mir alles weh und ich kann mich kaum noch bewegen. Nun verstehe ich mal, wenn du abends nicht rumkommen willst, wenn du von Training zu geschafft bist. Mom und Dad sind gerade noch ein wenig am spazieren und morgen wollen wir die berühmten Wasserfälle besuchen. Hoffentlich kann ich bis dahin wieder einen Fuß vor den anderen setzen. Bis bald Nate
Leere.
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