Legion der Traurigen
- Malte
- 8. Jan. 2020
- 3 Min. Lesezeit
Trauer ist allgegenwärtig.
Auch wenn er oft unscheinbar von außen ist, bricht er manchmal durch die Fassade und flutet das Gesicht mit einem Schauer aus Hilflosigkeit, Angst und Ungewissheit. Mal eine Prise Wut, mal ist es Enttäuschung.
Wenn Trauer uns überwältigt, trennt er uns von der Außenwelt und schmeißt uns in eine Isolationszelle, um mit uns sein Spiel zu treiben.
Egal wo du bist, egal wer du vorgibst zu sein – Der Trauer packt und rammt dich zu Boden.
Sowie ich mich umsehe steht eine Legion der Traurigen vor mir.
Eine Frau, die weinend auf ihr Handy starrt und Zuflucht in ihren Lieblingsliedern sucht. Textzeilen huschen über ihre Lippen und geben ihr sichtlich die Stärke, um gegen die nächsten nahenden Tränen anzukämpfen.
Ihr Kopf, der vorher noch vor Schock zitterte, nickt nun im Takt zur Musik.
Die Lippen werden schmal.
Die verheulten, roten Augen blicken sich hastig um.
Ich schließe meine.
Ich spüre ihren Trauer. Ihre Aura.
Von ihrem Platz aus spüre ich einen Fluss negativer Emotionen, der sich aus ihrem Herzen
ausbreitet, sich windet und mit den Armen seine Bahnen sucht.
Meine Hände versuchen sich an seinen Ufern festzukrallen, doch er weicht meinen Fingern aus.
Bitte lass mich etwas klarstellen.
Ich habe nie an etwas Übernatürliches geglaubt.
Für jedes Wunder gab es eine wissenschaftliche Erklärung, für jede geisterhafte Erscheinung eine Lichtreflektion, die Menschen hinter das Licht führte.
Damals in der Schule musste ich laut lachen, als meine Französischlehrerin vorschlug, die Schülerinnen und Schüler nach ihrem Sternzeichen in Klassen einzuteilen.
Sonst könnten ja die wilde Natur der Stiere mit den sanften Waagen kollidieren.
Mein, zugegeben sehr hämisches, Lachen brachte mir einen strafenden Blick ein, den ich voller Stolz mit mir herum trug.
Ich glaube nicht an die Kraft von irgendwelchen Planetenkonstellationen.
Nicht an göttliche Segen, teuflisches Unglück und erst recht nicht an Geister, umherschwebende Seelen und übernatürliche Magie.
Meine ganze Konzentration ist bei der Frau, die mir mit nassroten Augen in der Bahn
gegenüber sitzt. Vor meinen geschlossenen Augenlidern sehe ich ihre Trauer, ihre Bedenken, ihren Schmerz. Ohne sie oder ihre Geschichte zu kennen verbünde ich mich mit ihr.
Durch meinen Körper wirbelt ein Kribbeln.
Es ist kalt vor Sorge, aber auch warm vor Hoffnung.
Ich schüttel mich, finde den Fokus und denke zu ihr:
ALLES WIRD GUT
Meine Augen öffnen sich wieder und mit einem letzten Lächeln befinde ich meine Arbeit für getan.
Empathie ist die Magie an die ich glaube.
Jeder Mensch, der weiß wie es ist alleine zu sein, während die Unruhe des Alltags mit kleinen Stichen die Psyche malträtiert, versteht mich.
Die Sehnsucht nach einem Ende ist genau so groß wie die Angst aus dieser Zelle auszubrechen und sein Leid wie einen Infekt nach außen zu tragen, um die letzte Bastion der geliebten Menschen damit zu belasten.
Doch auch von dem anderen Ufer aus ist es meist nicht leichter.
Wie fässt man ein wertvolles, zerbrechliches Ei an, ohne die Schale zu zerstören?
Vielleicht ist es am besten das Ei gar nicht erst zu berühren, sondern es warm zu umwickeln, ihm einen weichen Platz zu bieten, damit es nicht bricht.
Man muss nicht grob mit Werkzeugen herangehen – Oft ist es am wichtigsten einfach da zu sein. Zu existieren, eine Aura der Sicherheit auszustrahlen, der Fels in der Brandung zu sein.
Selbst wenn es noch so einsam ist in der Zelle des Trauers, es ist doch ein unglaublich
erleichterndes Gefühl, dass auf der anderen Seite der schweren Tür eine vertraute Seele wartet, nicht wahr?
Ihr bloßer Halt, wenn alles andere zusammenfällt.
Die Augen, die voller Mut in deine schauen und sagen, dass du nicht alleine gehen musst.
Wir Traurigen müssen aufeinander aufpassen.
Uns schweigend Hoffnung zusprechen.
Den Frust und den Schmerz teilen.
Verdammt.
Es ist okay zu weinen.
Es muss sein.
Weinen ist Offenbarung.
Verletzlich sein.
Wunden heilen lassen.
Und mit der letzten Träne und Taschentuch schweift der Blick Richtung Horizont.
Es geht weiter.
Es muss weiter gehen.
Die Sonne geht unter.
Der Himmel glänzt rotgelbdunkel.
Bald ist er schwarz, doch die Lichter dieser Stadt halten ihn lauwarm.
Über die Wolken und Rauchschwaden werden Scheinwerfer ziehen.
Doch die Sonne wird wieder über den Rand der Welt rollen.
Alles im Weg schwebende erweckend.
Es geht weiter.
Mit dir.
Mir mir.
Mit allen die hinter uns stehen.
Mit allen die vor uns liegen.
Mit der Legion der Traurigen.
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