Schweigen
- Malte
- 22. Okt. 2021
- 4 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 15. Mai 2022
Wir sitzen bei Kerzenschein auf dem Sofa und begraben uns unter Decken. Es ist Herbst und Blätter zieren draußen die Straßen. Gelbe Blätter. Rote Blätter. Braune Blätter. Kupferfarbene Blätter. Dreifarbig grüne, rote, gelbe Blätter. Manchmal sind die Blätter nass. Es regnet von Zeit zu Zeit. Der Herbst halt. Wird ganz schön rutschig dann. Und kalt auch.
Warum ich so viel über Blätter schreibe?
…
Weil das alles ist, worüber wir uns unterhalten. Unsere Konversation gleicht einem angefahrenen Tier, welches dem Tod direkt in die Augen schaut und sich vehement weigert den letzten Atemzug zu nehmen. Falls es Geister oder göttliche Wesen geben sollte (was ein Fass ist, dass ich jetzt nicht aufmachen möchte), dann würden diese ihre Fingernägel bis zum Rande der Existenz abkauen, ihre Haare raufen und voller Frust in ihre Kopfkissen schreien – ganz allein bei dem Anblick unseres pathetischen Versuch eines Gespräches. Wir öffnen unseren Mund und Worte fallen heraus wie Papierschiffchen, die auf eine Reise die Niagarafälle hinab geschickt werden. Viel Glück, kleine Buchstabensuppen. Hoffentlich bleibt noch etwas von euch übrig, wenn ihr die Stimmbänder passiert habt. Seit 12 Minuten reden wir jetzt schon wieder über das Wetter in Berlin und es scheint keine Rettung in Sicht. Die Sonne geht unter und zittert am Horizont bei dem Gedanken, dass das Gesprächsthema sogleich auf sie gelenkt werden könnte. Aber so weit soll es nicht kommen. Stattdessen passiert etwas noch viel grausameres: Stille. Schweigen. Schweigen, das wir beide verstehen können. Schweigen auf Deutsch.
In unseren Köpfen suchen wir vergeblich nach Gesprächsthemen. Wir öffnen unseren Mund und schließen ihn wieder mit einem Schütteln.
Wir versuchen die Hilflosigkeit in unseren Augen zu kaschieren, wenn unsere Blicke sich bei dem nervösen Abtasten der Raufasertapete kreuzen. Ein aufgesetztes Lächeln ziert unser Gesicht, welches wahrscheinlich den meisten Sechsjährigen einen größeren traumatischen Schrecken einjagt, als der leicht angetrunkene Onkel, welcher bei der Wahl des Clownkostüms für die Geburtstagsfeier leider unabsichtlich bei den Stephen King inspirierten Darstellungen gelandet ist. Schweigen - so brachial, dass die Fruchtfliegen, die um meine toten und verschimmelnden Sukkulenten kreisen, aufhören zu atmen. Das schlechte Schweigen. Das schwere Schweigen, welches wie eine Steinlawine unsere Magengrube schwemmt. Wir sitzen still und unbeholfen auf meinem roten Sofa und drücken unsere Extremitäten in die in sich eingesackten Kissen, die eine Art Rückenlehne darstellen sollen. Ich denke darüber nach wie ich diese Situation irgendwie retten kann. Oder wie ich ihr entkomme. In einer Serie wäre nach dem ersten dummen Witz und einem eigespielten Publikumslachen ein Cut gekommen, der verhindert hätte, dass Zuschauerinnen die Absurdität der absolut weltfremden Unterhaltungssendung überdenken und sich fragen, warum sie schon seit 3 Stunden so einen Unsinn schauen und nicht doch lieber die inzwischen muffelnde Wäsche aus der Waschmaschine holen, die vor 3… oder vielleicht 4 Folgen mit einem Piepton darauf aufmerksam machen wollte, dass ein Leben außerhalb des Sofas existiert. Bah, Serien. Ich hasse Serien. Aber dieses Thema habe ich vor 25 Minuten auch schon angesprochen, worauf sie beschämt den Reisverschluss ihres H&M Hoodies demonstrativ noch höher gezogen hat, um das Friends Fanshirt darunter zu verbergen.
„Guter Tee. Schmeckt echt gut.“, sagt sie. „Hmm, ja. Echt gut.“, wiederhole ich, ohne meine Gehirnzellen etwaigen neuen Gedanken aussetzten zu müssen. „Sehr lecker. Was ist das für einer? Ich hatte ja mal so einen Zitronen-Lebkuchen Tee, der war richtig fancy.“, führt sie fort. „Sanxia Bai Cha aus Taiwan.“, beginne ich meine Antwort und hole tief Luft. Zum einen, weil ich genau weiß von welchem Aufgussgetränk sie redet – Einer abscheulichen Mischung aus Säure und aromatisierten Chemieunfällen verpackt in einem Teebeutel. Aber ich bin offen. Menschen können mögen, was sie mögen. Das ist okay. Es ist ein weiter Weg zur Besserung. Zum anderen atme ich tief ein, weil… ach, hört selbst: „Ein weißer Tee, den man eher aus China kennt. Dieser hier hat holzige Noten von Honig und Citrus und wird aus den kleinen, zarten Blättern an den sonnennahen Astenden gewonnen, welche besonders durch die feinen Härchen auf den Knospen auffallen. In dieser Züchtung sind diese Härchen ganz besonders prägnant und tragen vielleicht auch zu diesem weichen und blumigen Geschmack bei, welcher sich über die sechs Aufgüsse in der milden und weichen Tasse entfaltet.“. Sie antwortet nicht. Stille. Schweigen. Stattdessen nippt sie an ihrem Tee, schwenkt die Flüssigkeit ein wenig im Mundraum herum, schluckt, schaut mir direkt in die Augen und nickt mit einem Grinsen.
Aber jetzt keines von diesen aufgesetzten Grinsen, welche wahrscheinlich den meisten Sechsjährigen einen größeren… ach ihr wisst schon. Ein ehrliches Lachen. Ob es jetzt der Spaß an meiner Nerdigkeit für Tee ist oder die Überschwänglichkeit, mit der ich meinen impromptu TedTalk gehalten habe – Es ist ehrlich. Und so schön. Ich lache mit ihr, auch wenn ich nicht weiß worüber. Wahrscheinlich über alles, was wir die letzte Stunde durchgemacht haben, um hier zu landen. Und dann endlich kommt sie. Die Stille. Schweigen. Aber das gute Schweigen.
Einvernehmliches Schweigen, während wir beide unsere Hände um die lauwarmen Tassen schließen und die Wärme langsam durch den Körper fließen lassen. Schweigen, bei dem niemand die Not hat, das Wort erheben zu müssen, um diese zu brechen – Eben weil sie nicht gebrochen werden muss. Sie legt sich wie eine weitere Decke über uns.
Sie schaut auf ihr Handy und liest ein paar Nachrichten, lacht, schaut Memes und Bilder in den Weiten des Internets an und fällt immer tiefer in die Kissen und Decken um uns herum.
Ich krame bedacht und leise meinen Schreibblock aus meinem Rucksack, der voller knisternder, noch nicht entsorgter Einkaufszettel, sämtlichem Krimskrams aus Bücherboxen, die mir auf Reisen durch Berlin begegnet sind und einem Sortiment an Kugelschreibern und Bleistiften, die ich ‚klaue‘ – also als Werbegeschenk kostenlos mitnehme – in einer Ecke von meinem Zimmer steht.
Und auch ich sinke immer tiefer in das angenehme Schweigen, das wir gemeinsam zwischen Kissen und Kekskrümeln auf meinem Sofa gefunden haben und fange an diese Geschichte zu schreiben.
Ich erinnere mich an ein Sprichwort: Schweigen sagt mehr als 1000 Worte.
Das lässt mich laut auflachen.
Anstatt diese eintausend Worte zu schreiben, hätte ich auch einfach schweigen können.
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