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Trauma Träumer Streußelschnecke

  • Autorenbild: Malte
    Malte
  • 18. März 2024
  • 4 Min. Lesezeit

Es ist schon frustrierend. Da möchte ich mal mit Freunden einen Pixarfilm schauen, kuschle mich schon auf deren Sofa ein und in den ersten fünf Minuten fange ich unkontrollierbar an zu weinen, weil im Film eine Urgroßmutter sich nicht mehr richtig an den Namen ihres Urenkels erinnern kann. "Ach Uroma, die ist ein wenig vergesslich. Eigentlich heiße ich Miguel und nicht Julio." Leider weiß ich nicht mehr über den Film und wie die Geschichte endet, geschweige überhaupt anfängt und sich entfaltet. Kurz vor dem Filmabend habe ich meinen Vater besucht. Demenz. Eine Gratwanderung zwischen erkannt werden und nicht wissen, ob ich eine reale Erinnerung bin und kein Hirngespinst, ein Trick der Demenz. Zeitschleifen mit den drei gleichen schönen Fragen, die sich wie eine weiche, aber enge Jacke um mich legen. Ich möchte Wärme und Nähe, aber es quetscht und schmerzt.


Wisst ihr, in wie vielen Filmen und Büchern Demenz vorkommt? Meinem Empfinden nach in mindestens jedem dritten!

Wahrscheinlich spüre ich das nur, weil ich so sehr drauf achte. Andere Menschen sehen überall teure Uhren, seit ihr Erbstück zerbrochen ist. Oder bei jedem Kinobesuch sticht das gelbe Auto ins Auge, nachdem man schon so lange geträumt hat, genau so eines zu besitzen.

Wahrscheinlich würden mir auch weder die teure Uhr oder das gelbe Auto auffallen, als wären sie für meine Augen unsichtbar. Ich interessiere mich weder für Uhren, noch groß für Autos. Ich glaube Demenz ist auf diese Art unsichtbar für Menschen, welche sie nicht ständig vor Augen haben.

Manche Menschen wirken schrullig. Manche verwirrt, weil sie vor sich hin brabbeln. Einige Menschen scheinen ganz orientierungslos, aber wer ist das nicht in dieser großen Stadt, oder? Es ist leicht die Demenz nicht zu sehen, sie wegzurationalisieren.

Aber sobald man sie erstmal gesehen hat und versucht sie zu verstehen, dann ist sie überall.


Aktuell ist mir der Begriff der Tragik sehr oft im Kopf. Definition: Auf verhängnisvolle Weise eintretend und schicksalhaft in den Untergang führend und daher menschliche Erschütterung auslösend.

Aktuell fühlt sich alles sehr tragisch an. Immer wieder löst die Tragik diese kleinen Erdbeben aus, deren Epizentrum immer nah genug ist, um mich zu erschüttern.

Die Tragik nähert sich langsam, schleichend wie in Zeitlupe und meine müden Augen wenden sich ab. Ich habe schon oft gesehen was passiert, wenn ein Haus in sich zusammenfällt. Ich höre das Krachen hinter mir. Nie habe ich mir Illusionen gemacht, dass ich dem Lärm entkomme. Nur kann ich manchmal nicht hinschauen.


An den Tagen, nachdem die Erdbeben Häuser zum Einsturz gebracht haben, schwebe ich wie ein Geist durch die schuttbedeckten Straßen. In der Bahn fühle ich mich wie in einer isolierten Rettungskapsel, eingefroren, abgeschossen und auf dem Weg in hoffentlich sichere Lande. Auf Arbeit funktioniere ich wie ein Roboter. Routinierte Bewegungen. Fragen der NutzerInnen werden automatisch durch meine Neuronen bearbeitet, mein Mund spuckt freundlich die Antwort aus.

Ich kann bei bestem Willen nicht sagen, was ich zum Frühstück hatte. Oder was ich die letzte Woche gemacht habe oder was die nächste ansteht. In bin weder in der Vergangenheit, noch in der Zukunft. Aber tragischerweise bin ich auch nicht im Jetzt. Mein Körper bewegt sich durch die üblichen Abläufe in Berlin. So viel kann der noch alleine - sich durch Touristen schlängeln, die richtigen Bahnen nehmen und einen Weg nach Hause finden, wenn bei der BVG mal was ausfällt. Aber mein Geist ist fern. Ich glaube der träumt sich gerade an einen Ort weit weg von der Tragik. Doch Pustekuchen und Streußelschnecke, sage ich in der Woche darauf, wieder besonnen bei der Therapie sitzend. Verdrängung ist das! Und das tut mir im Großen und Ganzen doch auch nicht gut. Auf Verdrängung kann ich mich nicht lange ausruhen, wie auf einer Brennnesselwiese. Irgendwann brennt es dann doch.


Mein Kopf tut weh und träumt sich an die Ostsee, nach Norwegen und auf den Mond.

Morgens wache ich stets schweißgebadet aus einem neuen Alptraum auf, der mir in bildlichen Metaphern zeigt, was mich gerade so richtig verletzt. Ungeschminkte Wahrheiten und Ehrlichkeit, für die ich vor allem Nachts im Schlaf nicht bereit bin.

Da möchte ich vor allem schlafen.

Ich lenke mich ab. Klicke mich hin und her durch Videos, deren Inhalt ich nach dem schauen wieder vergessen habe. Höre Musik wie ein Rauschen im Hintergrund. Starte und stoppe, wechsle von einer Beschallung zur anderen. Wenn ich doch mal auf meine Bedürfnisse achte und meinen Hunger stillen mag, dann steht mein Mittagessen erstmal zehn Minuten still vor mir, bis ich anfangen kann. Ich habe Hunger, bestimmt. Nur ist es nicht so leicht meinem benebelten Kopf zu sagen, dass ich jetzt auch mal meinen Mund aufmachen und mit dem Löffel das Essen da rein schaufeln kann. Aber einen Vorteil hat es doch, so neben mir zu stehen. An solchen Tagen kann ich mir etwas Gutes tun und hole mir eine Streußelschnecke zum Snacken und labe mich an der perfekten Kombination aus Zuckerguss und Teig, auf dem ich rumkauen kann. Und da meine Gedanken abgeschaltet sind, denke ich nicht darüber nach, warum alle Streußelschnecken auf der Unterseite ein gepunktetes Sechseck haben. Sonst würde mich das noch in den Traum verfolgen, aber die sind ja wie ein Kino während der Berlinale schon voll belegt.

Dafür bin ich eigentlich ganz dankbar. Mal nicht über alles nachdenken, auch wenn der Grund dafür kein so toller ist. Doch ich sehe eine Hoffnung darin, zu lernen mit solch krachend lauten Zeiten umzugehen und sie zu nutzen um bewusst zu trauern, in mich zu gehen, nach meinen Gefühlen und Bedürfnissen zu fragen und mich selbst in den Arm zu nehmen.

Das ist schon eine tumultige Welt da draußen. Wenn bei dir mal die Wände einstürzen, dann melde dich gern. Ich bring Streußelschnecken mit.

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